Fantasie trifft auf Realität

28. November 2022, 7:00 Uhr | Jessica Stütz

Auf dem Gelände rund um die Sydney Central Station, dem verkehrsreichsten Bahnhof Australiens, entsteht derzeit ein 39-stöckiger Turm, der nach seiner Fertigstellung, die für das Jahr 2027 angepeilt ist, das Hauptquartier des Softwareunternehmens „Atlassian“ beherbergen soll. Dies ist der Auftakt des „Central Precinct Renewal Program“, mit dem das Gebiet in ein innovatives Technologiezentrum verwandelt werden soll. Die in die Jahre gekommene Gegend der Stadt musste sich über Jahrzehnte mit den riesigen Gleisflächen des Hauptbahnhofs arrangieren. Diese und die daran anschließenden Bahntrassen teilten die Stadt an zentraler Stelle seit über einem Jahrhundert. Der typische Bahnhofscharakter, alte Güterabfertigungshallen, die heute entweder un- oder umgenutzt sind, prägen mit ihrem Hinterhofcharakter das Stadtbild. Die gesamte Gegend soll nun in einem großen Wurf komplett überplant werden: Die Regierung des Bundesstaates New South Wales (NSW) hat diesen Plan für die Umgestaltung eines Gebiets über den Bahngleisen des Hauptbahnhofs von Sydney in einen neuen, hochverdichteten Stadtteil aufgelegt, um Tausende zusätzliche Jobs und Wohnraum in rund 850 Einheiten in das südliche Ende des Stadtzentrums zu bringen.

Der ambitionierte Masterplan für das 24 Hektar große Areal sieht bis zu 15 neue Gebäude mit vier bis 34 Stockwerken vor, in denen Büros, Hotels, Wohnungen, Res- taurants und Bars sowie eine Vielzahl anderer Gemeinschafts- und Kulturräume untergebracht werden sollen. Das Gelände wird außerdem rund 60 000 m2 Freifläche in Form von drei neuen Parks, eines großen öffentlichen Platzes und mehrerer kleinerer Plätze umfassen.

Fantasie trifft auf Realität

Zwischen den acht Betonböden werden die weiteren Geschosse in Holzbauweise eingefügt, sodass einzelne Turm- abschnitte entstehen (Fotos: SHoP Architects)
Offene Fassade: Die freitragende Gebäudehülle besteht aus teilweise beweglichen Glaselementen
Einer der sechs geplanten »Lebensräume« im Hochhaus: Die frei stehenden Konstruktionen aus Massivholz ruhen jeweils auf einer Betonplatte

Alle Bilder anzeigen (3)

Durch die Überbauung der Gleise und den Bau mehrerer neuer Brücken schließt sich die städtebauliche Wunde, die einst der Bau der Eisenbahn in das Herz der Stadt gerissen hat. Gleichzeitig bleiben die Stärken des Stadtviertels erhalten: Die gute Anbindung an den Nahverkehr ermöglicht es, hier hochverdichtet zu planen und zu bauen. Dies war ein ausschlaggebendes Argument, da Sydney künftig stark auf den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs setzen will. Einen Namen hat der neue Stadtteil übrigens auch schon: Tech Central.

Pakethalle bleibt bestehen

Nicht direkt ein Teil dieses Masterplans ist das neue Hochhaus von Atlassian, denn es befindet sich seitlich des Gleiskörpers auf der nördlichen Seite des Bahnhofs. Hier steht eine alte Pakethalle – ein Teil dieses Gebäudes beherbergte in den vergangenen Jahren ein beliebtes Hostel. Das schöne, klassische Industriegebäude wird auch künftig erhalten bleiben und der Öffentlichkeit zugänglich sein, denn der Bau wird in das neue Hochhaus integriert. Das beliebte Hostel wird in den unteren Etagen des Towers ein neues Zuhause auf Zeit für viele junge Gäste bieten. Über diesem Bestand wird auf mehreren massiven Stützen der Neubau realisiert, sodass er optisch über der alten Pakethalle schwebt. Auch der Erschließungskern des Baus sitzt im Bestand, sodass der Zugang zu den höheren Etagen durch den Altbau realisiert wird. Für die Bauarbeiten muss die Pakethalle jedoch zunächst zum Teil weichen: Sie wurde sorgfältig abgebaut, restauriert und an ihrem alten Standort um die neue Konstruktion herum wieder aufgebaut.

Ein Turm mit viel Grün

Die Basis des Turms sitzt wie ein Plateau über der historischen Struktur. Auf einer Betonscheibe bauen sich die 39 Stockwerke auf. In den unteren Etagen wird das Hostel einziehen, darüber befinden sich kommerziell genutzte Flächen. Den größten Teil der Etagen beansprucht Atlassian für seine Zentrale. Auffallend sind die „Habitate“, die im ersten, siebten, dreizehnten und darüber hinaus in jedem vierten Stockwerk zu finden sind. Der Turm besteht aus sechs separaten, aber miteinander verbundenen „Lebensräumen“. Jeder Lebensraum ist eine frei stehende Konstruktion aus Massivholz, die auf einer Betonplatte ruht. Diese Ebenen beherbergen natürlich belüftete Bereiche, die einem Garten im Freien ähneln. Die transparente Fassade des Gebäudes gibt den Blick auf diese begrünten Bereiche frei. Einen besonderen Blick wert sind die oberen Geschosse: Über fünf Etagen erstreckt sich die in Richtung Südosten terrassierte Form, die viel Tageslicht in die obersten Geschosse bringt und wie ein abgestufter Park anmutet. Interessant ist die Ausrichtung, die – Achtung – nicht in Richtung der Mittagssonne gewählt wurde, da diese in Down Under mittags im Norden steht.

Kühne Konstruktion

Es gibt Entwürfe, die sehen so unglaublich aus, dass man sie gleich in den Bereich „Fantasterei“ einordnen würde. In diese Richtung geht wohl auf den ersten Blick auch das neue Hauptquartier von Atlassian. Gestapelte Gärten, 39 Stockwerke aus Holz, ein Exoskelett aus Stahl und Glas und riesige Gärten in den obersten Etagen. Ziemlich viel Fantasterei. Und doch ist der Bau des Gebäudes schon in vollem Gange. So ungewöhnlich wie die Form des neuen Hochhauses, so wenig „von der Stange“ ist auch sein Aufbau. Auf die Gründung in Beton folgt die Errichtung des Erschließungsturms und der ersten Plattform für den Neubau. Insgesamt acht Betongeschosse zählt der Turm, die sich, ähnlich einer Etagere, um den massiven Erschließungsturm weit auskragend ausbreiten. Zwischen den Betonböden werden die weiteren Geschosse in Holzbauweise eingefügt, sodass einzelne Turmabschnitte entstehen.


Jetzt kostenfreie Newsletter bestellen!