Eine Kirche zieht um

1. März 2023, 8:00 Uhr | Jessica Stütz
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Auf einer Anhöhe im Wald in der Nähe des Ortes Stiege im Oberharz wurde die Stabkirche in Nachbarschaft der 1897 erbauten Lungenheilstätte Albrechtshaus in den Jahren 1904/05 errichtet. Die Planung für das in Fertigbauweise als sogenanntes Nordisches Blockhaus erstellte Gebäude stammt von dem Zimmermeister R. Witte aus Osterwieck nach dem Vorbild der Stabkirche zu Wang im Riesengebirge.

Der einschiffige Holzbau mit vorgelagertem Vorraum und Chor erhielt durch die mehrfach gestaffelten Satteldächer – ein Pultdach, ein Walmdach, sowie ein Dachreiter und geschnitzte Drachenköpfe – eine lebendige Dachlandschaft. Das Pultdach über dem Eingang wird von zwei Säulen gestützt. Das Gebäude ist 23 m lang, 11 m breit und ohne den mittig angeordneten Glockenturm 9 m hoch. Das Dach, ausgeführt mit der Tragkonstruktion eines Kehlbalkendachs, war anfangs mit Falzziegeln gedeckt, die später ersetzt wurden.

Eine Kirche zieht um

Fratzenhafte Verzierungen, sogenannte Neidköpfe, finden sich auch an der Entwässerung (Fotos: BMI Braas)
Die Ziegel wurden nachgeprägt und in einer Kleinserie gefertigt
Verlegung der neuen Doppelmuldenfalzziegel auf dem eingehausten Dach

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Der Glockenturm befindet sich in der Mitte des Dachs vom Kirchenschiff. Die Firstkämme sind nordischen Schiffskielen nachempfunden, die ursprünglich teilweise in Drachenköpfen endeten. Diese fratzenhaften Köpfe sind kulturhistorisch betrachtet sogenannte Neidköpfe, die mit einem Abwehrzauber behaftet sind. Ursprünglich sollten sie nicht nur gegen persönliche oder übernatürliche Gegner helfen, sondern auch gegen Naturgewalten. Während der Instandsetzungsarbeiten bis 1993 wurden die stark verwitterten Drachenköpfe durch einfachere Motive ersetzt.

Mehrere Ornamentfenster, zum Teil mit christlichen Motiven, belichten den Altarraum. An den Längsseiten der Kirche bringen jeweils drei große bleiverglaste Fenster Licht in den Innenraum, der mit Sichtholz gestaltet und dunkel lasiert wurde. Der Innenraum der Kirche wird durch den offenen Dachstuhl und eine Empore geprägt. Die Stabkirche Stiege gilt als ein Unikat in Sachsen-Anhalt.

Translozierung der Kirche

Nach einem Brand in der leer stehenden Lungenheilanstalt im Jahr 2013 kam es in der bis dahin unbeschädigten, aber nicht mehr genutzten Kirche zunehmend zu Einbrüchen und Beschädigungen durch Vandalismus. Mit Kettensägen wurden dabei die Seitenwände aufgebrochen, um an vermutete Wertgegenstände zu gelangen. Auch die daraufhin getroffenen Sicherungsmaßnahmen konnten die einsam im Wald gelegene Stabkirche nicht schützen.

Die Rettung der Stabkirche in Stiege war für Dachdeckermeister Helmut Hoppe eine Herzensangelegenheit. Mit einigen Mitstreitern wurde der Verein „Stabkirche Stiege“ 2014 von dem damals 78-jährigen Dachdeckermeister mit dem Ziel gegründet, die denkmalgeschützte, aber verfallende Kirche in die Ortsmitte von Stiege umzusetzen. Der Verein konnte mit Unterstützung der Deutschen Stiftung Denkmalschutz (DSD), Fördergeldern von Bund und Land sowie weiteren Stiftungen und zahlreichen Spenden das Grundstück für den neuen Standort erwerben und die Umsetzung der Stabkirche angehen.

Nach denkmalpflegerischen Untersuchungen konnte die Translozierung schließlich umgesetzt werden. Das Bestandsgebäude wurde dafür zunächst fotogrammetrisch vermessen und aufgenommen. Außerdem wurde jedes Element statisch untersucht. Für den Abbau haben die Handwerker jedes einzelne Bauteil mit einer Kennzeichnung versehen und in einem nach der Bauaufnahme erstellten Plan eingetragen. So konnte jedes einzelne Schalungsbrett, jede Pfette und jeder Sparren nach dem Abbau am neuen Standort wieder exakt am ursprünglichen Ort im Gefüge der Stabkirche aufgebaut werden.

Der Wiederaufbau erfolgte am neuen Standort auf einer Bodenplatte aus Beton. Damit die aufwendigen Bauarbeiten auch während der langen Wintersaison im Ober- harz durchgeführt werden konnten, wurde die gesamte Baustelle eingehaust. Zahlreiche Bauteile, die durch Feuchtigkeit oder Vandalismus beschädigt waren, mussten ertüchtigt oder ausgetauscht werden. So haben die Zimmerer der Werkstätten für Denkmalpflege GmbH Quedlinburg einzelne Sparren und die Fußschwellen erneuert sowie Blockbohlen ersetzt und Verbindungspunkte ertüchtigt.


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